Abstimmung Stadt Zürich: «Missverständlich», «skandalös» – Wirbel um «Goldene Fallschirme»-Vorlage
Eigentlich geht es um einfache Fragen über die Abfindungen von Stadträten und anderen Behördenmitgliedern. Doch es ist kompliziert – und die SVP erhebt heftige Vorwürfe.
Patrice Siegrist
Manchmal ist Politik wie ein Ikea-Möbel: Im Laden wirkt es simpel, zu Hause öffnet man die Verpackung, studiert die Anleitung und wischt sich den kalten Schweiss von der Stirn.
So ein Ikea-Möbel ist die Abstimmung über die «goldenen Fallschirme» für Stadtzürcher Behördenmitglieder am 3. März. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger haben zwei Optionen: die SVP-Initiative und den Gegenvorschlag.
Im Kern unterscheiden sich die beiden Vorlagen in zwei Punkten: Erstens will die Volksinitiative, dass nur abgewählte Regierungsmitglieder eine Abgangsentschädigung erhalten. Zweitens soll diese maximal einen Jahreslohn betragen.
Der Gegenvorschlag will, dass es auch bei freiwilligen Rücktritten eine Abgangsentschädigung gibt. Er will die Höhe beim heutigen Status quo belassen: maximal 1,8 Jahresgehälter bei einer Abwahl und maximal 1,5 Jahresgehälter bei einem freiwilligen Rücktritt. Der Gegenvorschlag will, dass Abgangsentschädigungen nur noch für Mitglieder des Stadtrats vorgesehen sind. Zurzeit gelten diese Regeln auch für andere gewählte Behördenmitglieder wie zum Beispiel Stadtamtsfrauen, Friedensrichter oder Kreisschulpräsidentinnen.
Auf den ersten Blick hat man quasi die Wahl zwischen einer Kommode mit vier und einer mit fünf Schubladen.
Aber: So einfach ist es nicht. Dafür wird es emotionaler.
Die offizielle Abstimmungszeitung, die Packungsbeilage zur Vorlage, sei «ausserordentlich missverständlich formuliert» und nur «bedingt transparent», sagt SVP-Gemeinderat Martin Götzl. Mehrfach sei die Rede davon, dass die Abgangsentschädigungen nur auf den Stadtrat beschränkt würden. Das Volk werde «für dumm verkauft», sagt er und spricht von «demokratieunwürdigem» und «skandalösem» Verhalten der anderen Parteien.
Tatsache aber sei, sagt Götzl, dass mit dem Gegenvorschlag auch andere Behördenmitglieder Entschädigungen erhielten.
Wie ist das möglich? In der Abstimmungszeitung findet man am Schluss etwas kompliziert formulierte Abschnitte. Darin enthalten ist der Hinweis: Entschädigungen für die anderen Behördenmitglieder würden in einer anderen Verordnung geregelt werden, «soweit dies der Gemeinderat als nötig erachtet».
Dass der Gemeinderat es als nötig erachtet, war schon sehr wahrscheinlich, als die Abstimmungszeitung in den Druck ging, jetzt ist es beinahe gesichert. Die Abstimmungszeitung liegt noch nicht mal im Briefkasten, und doch hat am vergangenen Donnerstag die zuständige Kommission bereits eine entsprechende Weisung zu Ende beraten.
Konkret sollen gewählte Behördenmitglieder wie Friedensrichter oder Kreisschulpräsidentinnen maximal 1,25 Jahresgehälter bei einer Abwahl oder einer Nichtnomination als Entschädigung (Abfindung oder Lohnfortzahlung) erhalten. Sie werden damit städtischen Mitarbeitenden in ähnlichen Positionen gleichgestellt, denen gegen ihren Willen und trotz guter Arbeit gekündigt wird. Diese Behördenmitglieder verdienen zurzeit im Durchschnitt rund 189’000 Franken pro Jahr, wie es beim Finanzdepartement auf Anfrage heisst.
Jüngst waren es gerade die Entschädigungen für Nichtstadträte, die empörten. 2021 wurde Roberto Rodriguez (SP) vom Kreisschulpräsidenten zum Schulleiter gewählt und kassierte, ohne einen Tag auf Jobsuche zu sein, eine Abgangsentschädigung von 687’131 Franken. Seit 2006 wurden rund 7,8 Millionen Franken Abgangsentschädigungen an 24 Personen ausgezahlt, deren acht waren Stadträte.
Solche Fälle wären nach dem Willen der gemeinderätlichen Kommission nicht mehr möglich. Gar keine Abfindungen gäbe es nur bei einem Ja zur SVP-Initiative.
Voraussichtlich kommt das Geschäft noch im Februar in den Gemeinderat. Stimmt der Rat zu, tritt die Weisung in Kraft, sofern dem Gegenvorschlag zugestimmt wird. Alle Parteien sind dafür. Ausser die SVP.
Die Kommission tat sich schwer mit dem Geschäft und der nahenden Abstimmung. Die GLP stellte einen Antrag zur Sistierung bis nach der Abstimmung, scheiterte aber damit. «Wir wollten erst darüber befinden, wenn das Volk entschieden hat, da wir keinen Entscheid vorwegnehmen wollten», sagt Serap Kahriman von den Grünliberalen.
SVP-Gemeinderat Martin Götzl wollte unbedingt zu diesem Geschäft «umgehend volle Transparenz» herstellen, wie er sagt. Die Stimmenden sollten wissen, was der Gegenvorschlag zusätzlich beinhalte. «Doch die kontroversen Diskussionen in der Kommission zeigten offensichtlich, dass bei jenen Parteien, die stark in der Regierung eingebunden sind, null Interesse besteht, dem Stimmvolk zum intransparenten Gegenvorschlag reinen Wein einzuschenken», sagt er.
Hans Dellenbach von der FDP versteht die Aufregung der SVP nicht: «Wir sind der SVP in so vielen Punkten entgegengekommen.» Die Initiative sei heute schon beinahe umgesetzt, und nun habe die Kommission das Geschäft noch vor der Abstimmung fertig beraten, sagt er. «Die Mehrheit hat die Sistierung des Geschäfts abgelehnt, und wir schaffen mit dem Entscheid Transparenz für die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger.»
Das sieht auch Luca Maggi (Grüne) so, der die zuständige Kommission präsidiert. «Die SVP sieht Geister», sagt er. Die Kommission gewichtete das Geschäft hoch, schaffte Transparenz und beweist Respekt vor dem Stimmentscheid. So tritt die Weisung nur dann in Kraft, wenn der Gegenvorschlag angenommen werden sollte. Ein entsprechender Vorbehalt wurde so festgeschrieben.
Auch die Stadt verteidigt ihre Abstimmungszeitung. Vernebelt werde nichts, sagt Claudia Naegeli, Sprecherin des Finanzdepartements. Die Situation sei aber kompliziert, weil sich die Initiative mit einer vom Gemeinderat überwiesenen Motion überschneide und diese die Umsetzung des Gegenvorschlags quasi vorwegnehme.
So kam es, dass die Abstimmungszeitung fertiggestellt werden musste, es aber noch unklar war, wie die Regeln für die wegfallenden Behördenmitglieder ausgestaltet werden sollten und wo diese im parlamentarischen Prozess stecken würden, wenn die Zeitung verschickt wird. Erwähnt werde die Vorlage allerdings. Doch: «Für die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wäre es zudem verwirrend gewesen, sie mit weiteren Details zum Gegenvorschlag zu konfrontieren», sagt Naegeli.
Die SVP lanciert ihren Abstimmungskampf am kommenden Montag. Bereits jetzt ist klar: Egal, wie sich die Stimmenden am 3. März entscheiden werden, die Abgangsentschädigungen in der Stadt Zürich wurden deutlich zurechtgestutzt. Damit dürfte die Stadtzürcher SVP eigentlich bereits jetzt einen ihrer seltenen politischen Erfolge feiern.